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Lev Myshkin

Politische Satire und literarischer Wiederstand

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Die Schweiz und ihre koloniale Unschuld

Posted on 15. Oktober 202515. Oktober 2025 by Lev Myshkin

Die Schweiz war nie Kolonialmacht. So lautet das Selbstbild – vorgetragen mit der Selbstsicherheit eines Bankiers, der das Blut am Gold nicht sieht, weil es hinter dem Mantel der Diskretion verborgen bleibt. Keine Flaggen in Afrika, keine Gouverneure in Asien, keine Galeeren mit Schweizerkreuz. Nur stille Beteiligung am globalen Ausverkauf.

Während andere Nationen ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten, stellt die Eidgenossenschaft ihr Reinheitszertifikat ins Schaufenster. Klar, glänzend, aber bitte nicht anfassen. Ausgestellt in dreifacher Ausführung, beglaubigt von der eigenen Geschichtsvergessenheit. Denn wer keine Kolonien hatte, kann ja nichts falsch gemacht haben. Oder?

Was wie Unschuld erscheint, ist keine Abwesenheit, sondern diskrete Präsenz. Die Schweiz war mittendrin – als Buchhalterin des Kolonialismus, als stille Teilhaberin am Profit, als Exporteurin von Sauberkeit auf schmutzigen Fundamenten.

Schon ab dem 16. Jahrhundert mischten Schweizer Kaufleute, Söldner und Missionare im kolonialen Karussell mit. Nicht mit Flaggen, sondern mit Filialen. Kaffee aus Brasilien, Tabak von Sumatra, Kakao aus der Karibik. Nicht selbst geerntet, versteht sich. Dafür gab es versklavte Hände.

Die helvetische Beteiligung war nie laut, sondern effizient. Paradebeispiel: die Volkart Brothers aus Winterthur. Gegründet 1851, betrieben sie ihre Geschäfte von Bombay aus und wurden zu einem der grössten Baumwollhändler der Welt. Von dort aus importierten sie Tee, Kaffee, Kakao und Gewürze nach Europa – koloniale Beute mit Handelslizenz. Im Gegenzug exportierten sie Uhren, Textilien und Maschinen aus der Schweiz. Industrielle Überlegenheit im Tausch gegen ausgebeutete Rohstoffe.

Was nach Handel klang, war Teil eines globalen Ausbeutungssystems. Die Arbeit geschah unter fremder Sonne, das Zählen in kühlen Schreibstuben. Volkart betrieb Entkörnungsanlagen im indischen Hinterland und kontrollierte die Lieferketten. Der Profit floss nach Winterthur, sauber verbucht, diskret verteilt, historisch verdrängt.

Ein Muster, das sich durch die Schweizer Kolonialgeschichte zieht. Auch die Textilindustrie war tief verstrickt. Im 18. Jahrhundert wurden „Indiennes“, bunt bedruckte Baumwollstoffe, als Modeartikel und als Eintrittskarte ins Menschenbusiness gehandelt. Textile Zahlungsmittel im Tausch gegen versklavte Körper. Schweizer Stoffe für afrikanische Menschenleben. Ein Deal, der sich rechnete.

Dieses lukrative Tauschverhältnis brauchte Organisation. Firmen wie Christoph Burckardt & Cie aus Basel investierten direkt in die Infrastruktur der Unmenschlichkeit. Sie finanzierten Sklavenschiffe, die Tausende Menschen nach Amerika verschleppten. Schweizer Logistik – präzise und effizient im Dienst des Menschenhandels.

Neutralität war Verhandlungssache, besonders wenn Sold floss. Zwischen 1815 und 1914 dienten rund 7’600 Schweizer Söldner in der niederländischen Kolonialarmee, viele davon in Indonesien. Sie kämpften im Acehkrieg, unterdrückten Aufstände und verteidigten Besitzungen. Nicht im Namen der Heimat, sondern für Vorschuss, Verpflegung und das Versprechen exotischer Abenteuer.

Auch in Haiti, Algerien und Surinam standen Schweizer in fremden Diensten. Nicht als Kolonialherren, sondern als bezahlte Mitläufer. Kanonenfutter mit Schweizer Pass. Die Eidgenossenschaft stellte kein Imperium, aber das Personal. Was an Flaggen fehlte, wurde durch Einsatz ersetzt. Ein globaler Leiharbeitsdienst mit patriotischem Anstrich und Exportstempel. Diskret wie ein Bankgeheimnis.

Während andere Nationen Kolonien eroberten, lieferte die Schweiz Regimenter, Know-how und Uniformen. Und nannte es Tradition. Ein Traditionsverständnis, das sich gut mit Neutralität vertrug, solange die Rechnung stimmte.

Wissenschaft war keine Randfigur, sondern Regieassistenz im kolonialen Theater. An den Universitäten in Zürich, Bern und Basel wurden bis ins 20. Jahrhundert Rassentheorien gelehrt. Nicht nur zur Rechtfertigung, sondern zur akademischen Veredelung von Herrschaft.

Die ETH Zürich ehrte Forscher, deren Werke koloniale Ideologien stützten. Laut interner Untersuchung vertreten zwei Drittel der untersuchten Denkmäler auf dem Campus rassistische, sexistische oder kolonialfreundliche Positionen. Ein Denkmalpark der Diskriminierung mit Lehrauftrag.

Schweizer Ethnologen wie Fritz und Paul Sarasin reisten nach Ceylon und Sumatra, sammelten Artefakte, Tiere und menschliche Schädel. Nicht zur Aufklärung, sondern zur Einordnung. Sortiert nach Hautfarbe, katalogisiert nach Weltbild.

Heute lagern ihre Funde in Museen, etikettiert als wissenschaftliches Erbe. Nicht als koloniale Beute. Die Archive sind geordnet, die Sammlungen katalogisiert. Nur die Geschichte bleibt unsortiert – und erstaunlich still.

Missionare predigten das Evangelium in Ghana und Kamerun und gründeten nebenbei Plantagen, Handelsgesellschaften und Schulen. Die Basler Mission, ab 1828 aktiv an der Goldküste, war nicht nur seelsorgerisch, sondern auch unternehmerisch. Kakaoplantagen, Druckereien, Werkstätten und eine der ersten Aktiengesellschaften der Schweiz. Göttlich organisiert, betriebswirtschaftlich optimiert.

In Kamerun, ab 1886 unter deutscher Kolonialherrschaft, wurden Missionsstationen zu Umschlagplätzen für Kolonialwaren. Gottes Wort und Gottes Ertrag gingen Hand in Hand. Die Predigt lautete Demut und Disziplin, die Lieferung bestand aus Rohstoffen für den europäischen Markt.

Was als Seelsorge begann, endete als Lieferkette. Exportiert wurde nicht nur Schokolade, sondern auch Schuldgefühle. Verpackt als Nächstenliebe, etikettiert als Entwicklungshilfe. Mission accomplished.

Und dann wurde aus Moral ein Marketingprodukt. Ein Mythos, süss und scheinheilig. Exportiert in alle Welt, produziert mit globalen Rohstoffen, veredelt mit lokalem Selbstlob. Als wäre sie der Beweis für Tugend – dabei ist sie das perfekte Symbol für verdrängte Verantwortung. Aussen zart, innen bitter. Man schwärmt von der Reinheit der Rezeptur, doch die Herkunft des Kakaos bleibt im Schatten. Genau wie die Hände, die ihn pflücken: braun, unsichtbar, ausgebeutet.

Seit dem 19. Jahrhundert floss Kakao aus kolonialen Lieferketten in die Fabriken von Suchard, Tobler, Sprüngli, Villars und Cailler. Während hier Pralinen perfektioniert wurden, schuften auf den Plantagen Kinder, verschwinden Menschen, wird Armut vererbt. Und bis heute stammt ein Grossteil des Kakaos aus Regionen wie Ghana und Côte d’Ivoire, wo Kinderarbeit und Ausbeutung keine Ausnahme, sondern System sind. Die Marken glänzen, die Geschichten schweigen.

Diese Realität taucht in keinem Werbespot auf. Sie steht nicht auf der Verpackung, sie steht nicht im Rampenlicht. Geliebt wird das Produkt, nicht die Menschen, die es möglich machen. Ihre Arbeit ist sichtbar, ihre Würde nicht. Geschmacklich anerkannt, wirtschaftlich ausgeblendet, gesellschaftlich ignoriert.

Die Schweiz hat keine Kolonien hinterlassen, aber Spuren. In Archiven, in Lieferketten, in Denkmälern und in Museen. Die koloniale Unschuld ist ein Mythos. Gepflegt mit Präzision, verteidigt mit Diskretion. Wer von globaler Verantwortung spricht, muss auch die eigene Geschichte offenlegen.

Was wäre, wenn Museen nicht nur ausstellen, sondern erklären? Wenn Schulen nicht nur feiern, sondern fragen? Wenn Unternehmen nicht nur werben, sondern aufarbeiten?

Die koloniale Vergangenheit ist kein abgeschlossenes Kapitel. Sie ist ein offenes Konto. Die Frage ist nicht, ob die Schweiz Kolonialmacht war, sondern wie lange sie sich noch als unbeteiligte Zuschauerin inszenieren will.

Wer profitiert hat, trägt Verantwortung. Wer Verantwortung trägt, muss reden. Nicht schweigen.

Denn Schweigen ist keine noble Zurückhaltung. Es ist gut organisierte Verantwortungslosigkeit.

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