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Lev Myshkin

Politische Satire und literarischer Wiederstand

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Der Mensch ohne Maske – Über die Sehnsucht nach Authentizität in einer Welt der Rollen

Posted on 16. Oktober 202517. Oktober 2025 by Lev Myshkin

Er kommt rein. Lächelt. Nickt. Sagt etwas Kluges, das klingt wie Meinung, aber irgendwie schmeckt wie Styropor. Die Leute mögen ihn. Sofort. Er wirkt präsent, verbindlich, professionell: jemand, der weiss, wie man sich zeigt, ohne sich zu zeigen.
Aber er ist nicht da. Nicht wirklich.
Was sie sehen, ist nur seine Maske. Glatt, kompatibel, fast unzerbrechlich.
Der Mann dahinter? Keine Ahnung. Vielleicht ein Schattenriss.
Vielleicht auch sich selbst fremd.
Und nachts, wenn alles still ist, denkt er manchmal, dass er eigentlich ganz anders lacht.
Doch dann schläft er ein. Oder scrollt. Oder erinnert sich an den Moment, in dem er fast etwas gesagt hätte, das nicht ins Bild gepasst hätte. Fast.

Authentizität hat heute einen Marktpreis.
Wer sie gut spielt, bekommt Vertrauen. Follower. Jobs.
„Sei du selbst“ – aber bitte in der richtigen Tonlage, mit schmeichelndem Licht und einem Gesicht, das nicht stört. Echtheit ist kein Zustand, eher eine Performance.
Ein Algorithmus mit Augenringen.

Wir hetzen dieser Echtheit hinterher und merken kaum, dass das Ich längst nicht mehr mitkommt.
Wie ein Echo, das so lange auf fremde Stimmen antwortet, dass es seine eigene nicht mehr erkennt. Manchmal frage ich mich, ob mein innerer Klang je echt war.
Oder ob ich ihn nur erfunden habe. Weil man das halt so macht.

Die Welt will kein Ich. Sie will ein Repertoire: Partner, Elternteil, Kollegin, Führungskraft.
Jede Rolle hat ihr Skript, ihre erlaubten Regungen, ihre Dresscodes.
Man spielt. Man funktioniert. Wer aus der Rolle fällt, stört. Schweigen macht verdächtig.
Und wer zu viel zeigt, gilt als instabil.

Die Maske hilft. Sie filtert, glättet, schützt – vor Ablehnung und davor, wirklich gesehen zu werden. Aber sie kostet.
Denn je länger man sie trägt, desto leiser wird’s innen. Irgendwann spricht nur noch die Rolle. Und das Ich sitzt im Zuschauerraum. Nicht eingeladen. Nur dabei. Und klatscht, um nicht aufzufallen.

Der Mann ohne Maske steht auf einer Bühne. Kein Licht. Kein Text. Nur er.
Er redet, wie er denkt. Und merkt zu spät, was er gesagt hat.
Er lacht zu laut. Schweigt zu lange. Weint zur falschen Zeit.
Die Stühle des Publikums knarzen unter einer Unruhe, die keiner zugeben will.
Einige lächeln gezwungen. Andere schauen aufs Handy. Einer steht auf und geht.
Aber der Mann ohne Maske bleibt. Nicht aus Stolz, sondern weil es für ihn kein Zurück mehr gibt. Oder weil er längst vergessen hat, wie man geht.

Und irgendwann, ganz leise, wird aus dem Mann ein Mensch.
Nicht weil er sich verändert hat, sondern weil wir ihn anders sehen.
Nicht als Figur, sondern als Echo. Als Möglichkeit. Als uns selbst.

Er ist unbequem. Aber echt. Und das reicht, um gefährlich zu wirken – in einer Welt, die lieber glatte Oberflächen streichelt als einen rauen Kern zu berühren.
Doch Echtheit verliert an Wirkung. Was gestern noch provozierte, wird heute übersehen.
Die Welt hat gelernt, nicht mehr zu reagieren.
Man sieht ihn, aber nicht hin. Und das macht ihn nicht rebellisch, sondern einsam.
Nicht laut. Nicht tragisch. Nur anwesend. Wie ein Ton, den keiner mehr hört.
Ich weiss nicht, ob das schon das Ende ist oder erst der Anfang.

Aber irgendetwas bleibt. Nicht in ihm, sondern in uns. Ein Nachklang.
Eine innere Resonanz. Etwas, das sich nicht erklären lässt, aber spürbar ist.

Es heisst, man findet sich selbst, wenn man alles andere verloren hat.
Aber vielleicht ist das nur ein Mythos.
Vielleicht ist dieser Mensch nicht fremd. Vielleicht trägt er unsere Züge.
Nicht weil wir dieselbe Maske tragen, sondern weil wir wissen, wie sie drückt.
Und weil wir ahnen, was bleibt, wenn sie fällt.

Was wäre, wenn wir die Maske abnehmen? Nicht als Geste, sondern als Entscheidung.
Wenn wir nicht mehr gefallen wollen, sondern verstanden werden.
Wenn wir nicht mehr funktionieren, sondern einfach nur da sind.
Würde man uns noch einladen? Noch lieben? Noch bezahlen?

Vielleicht nicht. Vielleicht würden wir einfach nur dastehen. Ohne Publikum.
Wir würden zittern, aussehen wie Karikaturen unserer selbst.
Oder wir würden zum ersten Mal atmen.
Und niemand würde klatschen.
Aber wenigstens wäre es unser Atem.

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