Skip to content

Lev Myshkin

Politische Satire und literarischer Wiederstand

Menu
  • Home
  • Blog
  • Kategorien
  • Über
Menu

Die Alpen sind weiss

Posted on 3. Oktober 202514. Oktober 2025 by Lev Myshkin

Du stehst am Bahnhof Zürich. Zwei Minuten vor Abfahrt. Du hast ein Ticket, du hast Zeit, du hast nichts verbrochen – ausser, dass dein Gesicht nicht nach „Urschweiz“ aussieht. Die Kontrolleure kommen. Sie gehen an den Banker im Anzug vorbei, an der Studentin mit Dutt, am Touristen mit Kamera. Und dann bleiben sie bei dir stehen. „Ausweiskontrolle.“ Kein Grund, kein Verdacht, nur Routine. Schweizer Routine.

Ein kurzer Moment – scheinbar belanglos, und doch ein Symptom eines tiefer liegenden Musters. Denn was wie Zufall aussieht, ist längst programmiert – kein Ausrutscher, sondern Absicht mit System. Die Schweiz ist ein Land, das Ordnung liebt wie ein Chirurg sein Skalpell – mit Präzision, Kontrolle und dem festen Glauben, dass alles, was nicht passt, entfernt werden muss. Die Landschaft folgt diesem Prinzip: Berge wie aus dem Lehrbuch, Seen wie aus dem Labor, Städte wie aus dem Architekturwettbewerb. Alles scheint geregelt, geordnet, sterilisiert. Doch unter dieser Oberfläche liegt ein Schweigen, das nicht leer ist, sondern voll – voll von Ausschlüssen, von Blicken, von Strukturen, die nicht schreien, sondern flüstern: „Du gehörst nicht dazu.“

Und dieses Flüstern ist überall. In der Wohnung, die du nie bekommst. Im Job, für den du nie eingeladen wirst. In der Kontrolle, die immer dich trifft. In der Neutralität, die so weiss ist wie die Vorstellung davon, wer dazugehören darf. Weiss wie die Alpen – majestätisch, erhaben, aber mit klarer Einlasspolitik. Wer nicht ins Panorama passt, bleibt draussen.

Der Pass ist rot – ein kräftiges Karminrot mit weissem Kreuz, für viele ein Symbol von Sicherheit und Zugehörigkeit. Doch Zugehörigkeit bedeutet hier nicht Gleichbehandlung. Denn wer ihn trägt, wird nicht überall gleich gesehen. Für manche ist er ein Freifahrtschein, für andere ein Prüfobjekt – ein Dokument, das kontrolliert wird, wenn das Gesicht nicht ins nationale Selbstbild passt. Rot wie die Ironie, dass Gleichheit an der Farbe des Dokuments hängt – und an der Farbe deiner Haut. Rot wie die Lippen der Schweiz, wenn sie sagt: „Wir sind offen.“ Und weiss wie die Zähne, wenn sie dabei lächelt – höflich, korrekt, aber fest geschlossen.

Struktureller Rassismus in der Schweiz ist wie ein Sicherheitssystem – hochentwickelt, unsichtbar, und darauf programmiert, Alarm zu schlagen, wenn etwas „nicht ins Schema passt“. Kein offener Hass, keine groben Worte. Hier wird aussortiert mit Formularen, Blicken, Tonfall. Die Sensoren sind kalibriert auf Namen, Hauttöne, Herkunft. Du wirst nicht angegriffen – du wirst markiert.

Währenddessen wird anderswo geprüft: nicht wer du bist, sondern warum du hier bist. Die Schweiz gewährt Asyl, aber bitte mit Beleg: schriftlich, sachlich, möglichst ohne Tränen. Das Leid wird katalogisiert, das Trauma verwaltet, die Herkunft bewertet. Nicht zu viel, das wirkt dramatisch. Nicht zu wenig, das wirkt konstruiert. Am besten mittleres Elend mit klarer Storyline. Du bist nicht willkommen, du bist vorgemerkt. Nicht als Mensch, sondern als Fallnummer. Du darfst bleiben, bis du gehen sollst. Du darfst arbeiten, aber nicht ankommen. Du darfst hoffen – aber bitte leise.

2022 kam eine neue Kategorie: die guten Flüchtlinge. Blond, blauäugig, europäisch. Die Solidarität war plötzlich sichtbar – auf Bahnhöfen, in Medien, in Wohnzimmern. Keine Dublin-Verordnung, keine Wartehallen. Man half, weil man sich erkannte – nicht im Schicksal, sondern im Spiegel. Für ukrainische Geflüchtete gab es Sonderstatus, Schutz ohne Asylgesuch, Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Schule, zur Wohnung. Nicht, weil sie litten – sondern weil sie passten. Die Schweiz zeigte sich offen.

Doch diese Offenheit war keine Haltung – sie war eine Auswahl. Offenheit ist hier kein Prinzip. Sie ist ein Filter. Denn Zugehörigkeit ist kein Recht – sie ist ein Privileg. Wer dem Bild entspricht, wird aufgenommen. Wer nicht, wird abgelegt. Die Ablehnung kommt als Floskel: „Leider haben wir uns für jemand anderen entschieden.“ Als Routine: „Ausweiskontrolle.“ Als Statistik: „Keine Diskriminierung nachweisbar.“ Rassismus ist hier kein Ausbruch – er ist Ablauf. Ein System, das dich nicht anschreit, sondern dich übergeht. Still. Kalt. Schweizerisch.

Und wenn gerade niemand Fremdes da ist, grenzt man sich eben gegenseitig aus. Das nennt man dann „Kantönligeist“ – klingt harmlos, fast niedlich, wie ein regionales Kräuterbonbon. Aber in Wahrheit ist es die schweizerische Hochform der Mikrogrenzziehung: 26 Kantone, jeder mit eigener Verfassung, eigener Schulpolitik, eigenen Steuergesetzen – und eigenen Vorstellungen davon, wer sich raushalten soll. Man nennt es Föderalismus, aber oft ist es Misstrauen mit Ortsangabe. Ein System, das sich selbst zerlegt, bevor jemand von aussen es stören kann.

Nicht nur der Fremde wird ferngehalten, sondern auch der Nachbar aus dem falschen Kanton. Die Schweiz ist ein Flickenteppich aus Selbstbehauptung. Wenn man sich behindert, nennt man das „Subsidiarität“. Wenn man sich ignoriert, „Eigenständigkeit“. Wenn man sich misstraut, „Identität“. Der Kantönligeist ist kein Defekt – er ist ein Feature. Und funktioniert so gut, dass man ihn sogar bewundert: als Modell für kontrollierte Vielfalt, für Ordnung. Als Beweis, dass man sich auch im Kleinen gross fühlen kann.

Die Schweiz sieht sich als Spiegel – klar, gerecht. Doch dieser Spiegel zeigt nicht alle Gesichter. Manche werden verzerrt, manche ausgelassen. Und wenn du fragst, warum, heisst es: „Das ist nicht persönlich. Das ist das System.“ Aber das System ist persönlich. Es entscheidet, wer du bist, wie du gesehen wirst – ob du überhaupt gesehen wirst. Und wenn nicht, warst du nie da. Steht so im Protokoll: unterschrieben, abgestempelt, abgelegt. Mit Schweizer Präzision. Und einem Stück Schokolade – zur Beruhigung.

Und während du das Stück Schokolade im Mund zergehen lässt, merkst du: Es schmeckt nach Reinheit, nach Ordnung, nach Alpen. Aber nicht nach dir. Denn du bist nicht Teil der Rezeptur – du bist nur Teil der Statistik. Und die Schweiz? Die bleibt, was sie immer war: ein Land mit weisser Fassade, rotem Pass und schwarzer Bilanz.

Wie wäre es, wenn die Schweiz sich einmal selbst kontrollieren würde – nicht mit Ausweis, sondern mit Gewissen? Wenn Reinheit nicht Tarnung wäre, sondern Eingeständnis einer tief sitzenden Angst vor Vielfalt? Wenn Ordnung nicht hiesse, wer ausgeschlossen wird – sondern wie Teilhabe möglich wird? Wenn das Lächeln nicht höflich wäre – sondern ehrlich? Und Kontrolle nicht nur nach aussen stattfände – sondern auch nach innen?

Aber das wäre zu laut, zu schmutzig, zu unpräzise. Also bleibt alles, wie es ist:

Die Alpen sind weiss. Aber nicht von Schnee.
Sondern von der Verdrängung, die so tief sitzt, dass selbst der Fels sie für Reinheit hält. Ein ganzes Land – vakuumverpackt, moralisch versiegelt, klimaneutral verdrängt. Und wenn du fragst, was drin ist, lächelt man höflich – und kontrolliert deinen Ausweis.

Beitrags-Navigation

Die Schweiz: Exportmeister im Tarnmodus →

Neueste Beiträge

  • Neun Quadratmeter Wichtigkeit
  • Der Mensch ohne Maske – Über die Sehnsucht nach Authentizität in einer Welt der Rollen
  • Die Schweiz und ihre koloniale Unschuld
  • Die Wahrheit und ihre Nebenwirkungen
  • Die Verantwortung der Macht – oder: Wann Erfahrung zur Ausrede wird

Archive

  • Oktober 2025

Kategorien

  • Ausland
  • Inland
© 2025 Lev Myshkin | Powered by Minimalist Blog WordPress Theme